Bericht aus Afghanistan
31.08.06
Liebe Freunde,
Nach einem längeren Heimataufenthalt bin ich wieder nach Kabul zurückgekehrt.
Die Zeit zu Hause stand im Zeichen der Verleihung des „Würzburger Friedenspreises“ an OFARIN und an meine Person. Ein Teil von Ihnen hatte schon von der Preisvergabe erfahren und gratuliert. Herzlichen Dank! Auch danke ich für viele Stellungnahmen zu vorangehenden Rundschreiben. Die hatten mich in Kabul nicht erreicht. Zu Hause kam ich dann nicht dazu, im einzelnen darauf einzugehen. Ich werde mich bessern.
Das Komitee, das den Würzburger Friedenspreis vergibt, ist ein loser Zusammenschluß verschiedenster Organisationen und Initiativen aus Unterfranken. Der Preis wird also nicht von der Stadt Würzburg verliehen. Auch rangiert die Auszeichnung etwas hinter dem Nobelpreis. Dennoch hatten wir mehr Resonanz bei den Medien erwartet. Das Presseecho war dürftig. Das lokale Fernsehen und der Rundfunk fehlten ganz. Das Komitee und OFARIN haben keine Mühe gescheut, die Verleihung, die im Foyer des Mainfranken-Theaters stattfand, zu einem schönen Fest zu machen. Das Komitee hat viel von unserer Arbeit verstanden. Es war eine große Genugtuung, daß Leute auf OFARIN zukamen, die wir vorher nicht gekannt hatten, und die uns zeigten, daß wir nicht ganz falsch liegen.
In Deutschland war die Stimmung für Afghanistan nicht mehr gut. Die Medien, die weniger differenzieren, hatten Afghanistan schon immer in einen Topf mit dem Irak geworfen. Die anderen hatten geglaubt, in Afghanistan sei – im Gegensatz zum Irak – die Nation-Building auf Bushs Art gelungen. Diese anderen leiden jetzt unter einem schrecklichen Katzenjammer. „Auch Afghanistan scheitert.“ ist jetzt die einhellige Meinung.
Und auch in Afghanistan ist die Stimmung schlecht. In der Tat läuft vieles in eine falsche Richtung. Aber die Entwicklung scheint mir noch umkehrbar zu sein. Sie schreitet recht langsam in diese falsche Richtung voran. Und das tut sie schon seit der Vertreibung der Taliban. Diejenigen, die jetzt in Panik geraten, haben vorher nicht richtig hingesehen. Die Durchführung mehrerer Wahlen, die ohne größere Zwischefälle gelang, haben viele als die Grundsteinlegung einer arbeitsfähigen staatlichen Struktur mißverstanden. Solche Erwartungen waren naiv. Die afghanischen Wahlen dienten in erster Linie dem innenpolitischen Bedarf der westlichen Initiatoren.
Die Verwaltungsstrukturen emtfalteten sich unabhängig von solchen Eingriffen des Auslands. Sie überwuchern inzwischen alle Aktivitäten der Menschen, so, wie es schon vor dem langen Krieg der Fall war, und so, wie es in den Nachbarländern auch ist. In Afghanistan ist dieses Wuchern noch längst nicht abgeschlossen. Es wird sicher alles noch schlimmer. Keine der Regularien, die Woche für Woche von den Beamten ausgebrütet werden, dient dem Wohl Afghanistans oder seiner Bürger. Der Aufwand für das Anmelden eines Leichtmotorrads oder die Erteilung eines Aufenthaltsvisums kostet den Antragsteller Jahr für Jahr die doppelte Zeit, verglichen mit dem Aufwand im vorangehenden Jahr. In der Praxis läuft alles auf Korruption hinaus. Pakistan, Usbekistan oder der Iran werden schon seit Ewigkeiten von korrupten Verwaltungen geplagt. Aber dort wissen die Beamten, was sie den Bürgern zumuten können. Sie bringen die Kuh nicht um, die sie melken wollen. Die afghanische Verwaltung ist noch jung. Die Beamten glauben nicht daran, daß sie noch lange abkassieren können. Sie haben zu viele Regimewechsel erlebt. Also raffen sie möglichst viel zusammen, ohne Rücksicht darauf, was man aus dem einzelnen Bürger herausholen kann.
Inzwischen ist der Leidensdruck groß. Wo immer man mit Afghanen zusammen sitzt, hört man spätestens nach fünf Minuten Klagen über die Korruption. Oft fällt dann auch die Bemerkung, daß es bei den Taliban nicht so schlimm gewesen sei. Die Korruption war damals tatsächlich nicht so schlimm, denn die Taliban waren weder willens noch in der Lage, eine differenziertere Verwaltung aufzubauen.
Die Korruption und die Wucherungen der Verwaltung scheinen die Grenze des Erträglichen erreicht zu haben. Sehr viel wirtschaftliches Engagement von Ausländern und von Exilafghanen unterbleibt unter diesen Umständen. Vermutlich werden in Zukunft noch mehr wirtschaftliche Initiativen abgewürgt werden. Ein Land sollte durch Gesetze und Verordnungen gesteuert werden. Wenn die Gesetze und Verordnungen maß- und sinnvoll sind, profitiert das Land davon. Aber Korruption macht alle Gesetze und Verordnungen wirkungslos. Wenn jemand entsprechend den Gesetzen sein Recht beansprucht, muß er Schmiergeld zahlen, wenn er das Recht umgehen will, muß er ebenfalls zahlen. Ein von der Korruption befallenes Land ist unregierbar.
Diesem traurigen Zustand der afghanischen Verwaltung stehen eher sinkende Leistungen für die Bürger gegenüber. Die „innere Sicherheit“ ist unbefriedigend. Täglich kommt es zu bewaffneten Überfällen auf Privathaushalte. Man geht davon aus, daß die Täter meist Soldaten oder Polizisten sind.
Das Bildungswesen ist jämmerlich schlecht. Die Versorgung der Schulen mit Lehrern und Unterrichtsmaterial war niemals ausreichend. Die Entlohnung der Lehrkräfte sorgte schon immer für eine negative Auswahl des Schulpersonals. Dieses Jahr werden die Löhne in manchen ländlichen Gegenden nicht mehr ausgezahlt.
Aber auch in anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes gibt es keine Löhne mehr. Das dürfte an dem Versuch liegen, ein nationales Finanzbudget durchzusetzen. Das Finanzministerium hatte sich von den Fachministerien Jahresplanungen vorlegen lassen und ihnen die entsprechenden Mittel zugewiesen. Die Fachministerien hatten sich bei ihren Ausgaben aber nicht an ihre eigenen Planungen gehalten, bzw. ein Teil des Geldes verschwand schlicht. Jetzt fehlt bis zum Beginn des neuen Finanzjahres das Geld für die täglichen Verpflichtungen. Die Loyalität eines Staatsdieners, auf dessen Rücken diese Disziplinierung seines Ministeriums ausgetragen wird, dürfte so nicht gefördert werden. Er wird versuchen, sich per Korruption das zu verschaffen, was der Staat ihm vorenthält.
Die Stromversorgung ist für uns Kabuler Normalverbraucher deutlich schlechter als in den vergangenen Jahren. Im Hochsommer hatten wir in den vorangehenden Jahren 24 Stunden Strom am Tag. Jetzt gibt es erst am Abend Strom, manchmal erst ab 22 Uhr. Nach Mitternacht wird dann wieder abgeschaltet. Das mag daran liegen, daß in den letzten Monaten viele Haushalte an die städtische Stromversorgung angeschlossen wurden und der Strom, den die Wasserkraftwerke von Naglu und Sarobi hergeben, auf mehr Verbraucher verteilt werden muß. Die Verwaltung tröstet mit dem Versprechen einer Fernleitung über den Hindukusch, die Kabul mit usbekischem oder tadschikischem Strom versorgen soll. Eine solche Verbindung gibt es frühestens in sechs Jahren. Die Alternative, Kraftwerke auf Kohle- oder Ölbasis einzusetzen, wird garnicht erst erwogen. Umweltfreaks mögen bei meiner Argumentation nicht erschrecken. Einige wenige Großgeneratoren sind sicher umweltfreundlicher als Tausende von Generatoren, die Geschäftsleute, Ausländer und die gesamte afghanische Mittel- und Oberschicht laufen lassen, solange der städtische Strom ausbleibt. Das Geld, das man den Verbrauchern für den Betrieb eines Ölkraftwerkes abknöpfen müßte, läßt sich aber in den staatlichen Kassen schlechter aufbewahren als Strom in Batterien oder in sonstigen Speicheranlagen. Wasserkraft kostet keinen Treibstoff. Davon können die Beamten des Energieminsteriums nichts abgezweigen. Den Strom aus dem nördlichen Ausland soll vermutlich die internationale Gemeinschaft direkt bezahlen, so daß die Probleme afghanischer Kassenhaltung garnicht auftreten.
Es gibt auch Fortschritte. Die Straße durch das Pandschirtal wird zügig geteert. Nun gut, das wird ausländisch finanziert und von einer türkischen Firma ausgeführt. Aber als ich in Kabul eintraf, fuhren wir von der Straße, die vom Flughafen zum Massud-Platz führt, sofort nach Westen ab und kamen bis zu unserer Straße nur auf geteerten Umgehungsstraßen durch. Da hatte sich einiges getan.
Am meisten beunruhigt die Ausländer die labile „äußere Sicherheit“, d.h. die Bedrohung durch die Taliban. Der Ausdruck „äußere Sicherheit“ ist trotz der Bürgerkriegssituation nicht falsch, denn die Taliban sind nur in den Gebieten aktiv, die von Paschtunen besiedelt sind. Das Gebiet läßt sich geografisch gut abgrenzen. Dort sind sie inzwischen flächendeckend präsent, auch wenn viele Vorfälle in den Paschtunengebieten, wie das Anzünden von Schulen oder Übergriffe auf Transporte, oft keinen politischen Hintergrund haben. Das Hasaradschat ist absolut ruhig. Die Menschen sind mit ihrer Lage zufrieden. In allen anderen Gebieten gab es schon immer kleine Einsprengsel der Taliban oder der Hisb-e-Islamie. So ist es auch in solchen Gebieten für die Taliban möglich, kleinere Anschläge, etwa auf Bundeswehr-Kontingente, zu organisieren. Solche Anschläge werden seltene Ausnahmen bleiben, solange man nicht falsch darauf reagiert.
Hier können die ISAF-Truppen viel von den US-Truppen lernen – nämlich, wie man es nicht macht. Auch in den Paschtunengebieten im Süden und Osten Afghanistans waren die Taliban 2002 bis auf kleine Reste verdrängt. Aber die US-Truppen, die diese Gegenden zusammen mit afghanischen Milizen aus dem Norden besetzt hielten, griffen immer wieder Dörfer mit der Luftwaffe und mit Bodentruppen an und führten sich so auf, daß sich die Bewohner den Taliban anschlossen. Den amerikanischen Soldaten und Offizieren wurde eingetrichtert, daß sie sich unter gefährlichen Wilden bewegten, von denen jede Heimtücke zu erwarten sei. Die Soldaten haßten und fürchteten die Afghanen und gingen entsprechend mit ihnen um. Mit so geführtem Militär kann man kein Land „befrieden“. So kann man nicht den Aufbau einer Zivilgesellschaft vorantreiben. Es ist nicht nachvollziehbar, wie die Truppenführung der Amerikaner vier Jahre lang ein so plumpes Vorgehen verantworten konnte. Jetzt hat die Nato die Führung aller westlichen Truppen in Afghanistan übernommen. Europäische Truppen, u.a. Niederländer und Engländer, rücken in den Süden vor und müssen dort die Suppe mit auslöffeln, die die Amerikaner eingebrockt haben. Vielleicht gelingt es, die Gegenden durch eine wesentlich defensivere Taktik doch noch zu beruhigen.
Leider gibt es eher Anzeichen dafür, daß die anderen Nationen sich die krankhaften Sicherheitsvorstellungen der Amerikaner zu eigen machen. Wenn man mit deutschen Soldaten spricht, muß man manchmal feststellen, daß auch sie von einer beängstigenden Bunkermentalität befallen sind. Afghanen kennen sie nur als Zivilangestellte innerhalb ihrer Festungen. Und denen mißtrauen sie. Afghanistan wird noch lange ein Einsatzland der Bundeswehr bleiben. Man macht sich Illusionen, wenn man glaubt, daß das ganz ohne Verluste abgehen kann. Es scheint sinnvoll zu sein, das System von Nahaufklärern, d.h. von Soldaten, die in ihren Gegenden mit der Bevölkerung und den Honoratioren verkehren, auszubauen und so ein möglichst enges Netz von Beziehungen zur Bevölkerung herzustellen. Stattdessen sollte man die festen Stützpunkte voller Soldaten, die dort monatelang eingebunkert sind, reduzieren. Solche Nahaufklärer haben im Raum Kabul sehr effektiv gearbeitet, auch wenn man sie nur wenig einsetzte. Auch in Nordafghanistan könnten sie konstruktiv wirken. Über solche Kontakte zur Bevölkerung können Anschläge eher vermieden werden als durch weitgehende Abkapselung und durch möglichst wenige Bewegungen der Truppen in schwer gepanzertem Gerät.
Doch die Paranoia-Pflege ergreift immer mehr auch die zivilen Helfer. Kleinkarierte „Dienststellenleiter“ erfinden immer mehr Sicherheitsvorschriften, die das Leben ihrer ausländischen Mitarbeiter bis zur Unerträglichkeit einschränken – Ausgangsbeschränkungen; Verbote, Autos selber zu steuern; Fahrradfahrverbote; Verbote, sich von Familienangehörigen aus der Heimat besuchen zu lassen.
Alles, was hier angeführt wurde, ist nicht in wenigen Wochen plötzlich entstanden. Die Ausbreitung der Taliban dank des Ungeschicks des US-Militärs konnte man schon lange beobachten. Die Wirkungsmöglichkeiten der Taliban haben jetzt aber ihre geografischen Grenzen erreicht. Und es besteht die Hoffnung, daß die Kommandoübernahme durch die NATO zur Beruhigung beiträgt. Die Fehlentwicklung der afghanischen Verwaltung war zu erwarten und findet seit 2002 statt. Vielleicht ließe sich durch ein entschlossenes Eingreifen des Auslandes, das schließlich den afghanischen Verwaltungsapparat finanziert, einiges verbessern. Die afghanische Bevölkerung haßt und verachtet ihre Staatsdiener. Eine ausländische Einflußnahme ist erwünscht.
Den Stimmungswandel unter den Ausländern kann ich nicht nachvollziehen. Jahrelang habe ich vieles bemängelt, worin andere „Schritte in die richtige Richtung“ sahen. Jetzt sehe ich mich als Beschwichtiger: Es besteht in Afghanistan kein Grund zur Aufregung.