DIE ZEIT

 

Wer ist Abdul Rahman?

Dem afghanischen Christen drohte die Todesstrafe. Von der Bühne der Weltpolitik führen seine Spuren zurück nach Hamburg

Von Florian Klenk und Ulrich Ladurner

Der Papst, der US-Präsident, die deutsche Bundeskanzlerin und zahlreiche Außenminister des Westens – sie alle intervenierten für Abul Rahman. Doch kaum einer kennt diesen Mann, der lieber sterben statt seinem Glauben abschwören wollte.

Wer Rahman und seinem Leben in Deutschland und Afghanistan nachspüren will, stößt zunächst auf Schweigen. Wer ihn sucht, landet in Kabul genauso wie in Hamburg-Schnelsen.Hier lebt in einem Plattenbau der afghanische Journalist Baqi Samandar. Draußen im Hof schaukeln afrikanische Kinder, verschleierte Mädchen sitzen auf einer Parkbank, und drinnen in seiner Wohnung surft Samandar gerade durch die Websites afghanischer Zeitungen. Für sie verfasst er von hier aus Berichte mit Überschriften wie Wir brauchen Meinungsfreiheit! und Wir brauchen Trennung von Staat und Religion!.

Seit Tagen recherchiert Samandar über das Leben Abdul Rahmans. Der Fall, sagt er, sei »exemplarisch.« Samandar ist längst Deutscher, seine Tochter arbeitet bei der Hamburger Polizei, sein kleiner Sohn fragt artig, ob er zwischen den Hausaufgaben eine Pause einlegen dürfe. An den Wänden hängen Fotos der Buddha-Statuen Bamians, die von den Taliban später gesprengt wurden. Samandar sagt: »Ich bin ein gläubiger Muslim. Ich habe andere Erlebnisse, als sie Huntington im Kampf der Kulturen beschreibt.«

Samandar suchte nach den Spuren von Abdul Rahman, er sprach mit dessen Freunden in Hamburg und in Afghanistan. Er befragte Priester jener christlich-afghanischen Kirchen in Hamburg, die Rahman besucht haben soll. Sie alle, sagt Samandar, »sprachen nur unter Zusicherung von Anonymität«. Nicht einmal der Name des Dorfes, aus dem Rahman kommt, soll genannt werden – die Bewohner hätten Angst vor »Hexenverfolgung«.

Wer ist dieser Mann, dem sogar Saarlands Ministerpräsident Asyl anbietet und der die Weltpolitik erregt, weil sein Fall angeblich das Scheitern der Demokratisierung in Afghanistan belegt? Im Auswärtigen Amt sagt ein Sprecher: »Wir wissen fast nichts über ihn.« Nur so viel wollen die Berliner verraten: Abdul Rahman ist »vermutlich kein Deutscher«, und den Presseberichten über seine Person sei nicht zu trauen, da keiner mit ihm sprechen konnte. Auch der Sprecher der Ausländerbehörde in Hamburg, einer Stadt, in der viele Afghanen leben, kann den Namen Abdul Rahman in keiner Akte finden.

In vielen Dörfern gibt es Richter, die weder lesen noch schreiben können

Dabei, so berichtet zumindest Ilse Schwarz, eine Mitarbeiterin des Netzwerks Afghanistan-Info, habe Abdul Rahman jahrelang in Hamburg gelebt und die Stadt freiwillig verlassen. Ob er Freunde in der Hansestadt hatte? Wie und wo wohnte er? Das wisse sie nicht, sagt Schwarz. Warum? »Niemand«, so erklärt auch der von Afghanen gern beschäftigte Asylanwalt Thorsten Buschbeck, »will über einen Konvertiten wie Abdul Rahman sprechen.« Man solle, so rieten einige, von einem Afghanen, der vom Glauben abfiel, »besser die Finger lassen«. So mancher von ihnen sei von seinen Landsleuten verprügelt worden.

Und so führt die Geschichte Rahmans mitten hinein in das heutige Afghanistan. Was bedeutet es, wenn ein Konvertit mit dem Tod rechnen muss? Ist damit das große Projekt Demokratisierung gescheitert? Ist es sinnvoll, ein Land, in dem Richter solches wollen, zu unterstützen? Das sind große Fragen, vielleicht zu groß für einen Mann wie Abdul Rahman, von dem der afghanische Staatsanwalt sagt: »Er ist keine normale Person, und er spricht nicht wie eine normale Person.« Und doch ist Rahman, der inzwischen freigelassen wurde, zu einem Symbol mit globaler Ausstrahlung geworden. Ein Symbol wofür?

»Eines muss man klar festhalten. Es ist nicht so, dass die Polizei ausgeschwärmt ist, um Christen zu jagen. Es hat keine Hexenjagd stattgefunden. Der Fall Rahman ist aus einem Familienzwist entstanden«, sagt eine westliche Diplomatin, die anonym bleiben möchte. Beruhigung, das ist offensichtlich das Stichwort, das derzeit in den diplomatischen Kreisen Kabuls ausgegeben wird. Tatsächlich sagt der Fall Rahman wenig über den Islam aus, sehr viel aber über Afghanistan. »Man muss«, sagt die Diplomatin weiter, »diese Geschichte vor dem Hintergrund des Aufbaus der Justiz beurteilen.«

Afghanistan verfügt über sehr wenige ausgebildete Juristen. Viele Dorfrichter können weder lesen noch schreiben. Selbst von den 137 Richtern des Obersten Gerichts kennen die meisten gerade die Grundzüge der Scharia. Weltliche Gesetzgebung, afghanische oder westliche, ist ihnen fremd. Obwohl die neue Verfassung die Unabhängigkeit der Justiz festschreibt, wird der Gerichtssaal als Kampfplatz der Politik missbraucht. Das ist wohl auch im Fall Rahman geschehen.

Hadi Schinwari zum Beispiel. Der oberste Richter des Landes vertritt die Auffassung, dass es gar keine andere Möglichkeit gebe, als »Rahman mit dem Tode zu bestrafen«. Schinwari ist bekannt für seine extrem konservativen Ansichten, er zählt zu den Gefolgsleuten des Kriegsherren Abdul Rasul Sayyaf, der von den Saudis unterstützt wird. Sayyaf ist gefürchtet wegen seiner Skrupellosigkeit. Wie den meisten anderen Kriegsherren ist es ihm gelungen, sich in die neue, demokratische Zeit Afghanistans hinüberzuretten. Heute sitzt er im Parlament, obwohl es viele Gründe gäbe, ihn wegen Kriegsverbrechen vor Gericht zu stellen. Demokratisch legitimierte Kriegsherren – auch das ist ein Produkt des neuen Afghanistans, ein beunruhigendes Produkt. Im Plattenbau in Hamburg-Schnelsen klickt der afghanische Journalist Samandar im Netz ein Video über Rahman an. Da steht der Angeklagte vor Gericht und beteuert, lieber zu sterben, als dem Christentum abzuschwören. Samandar fragt: »Ich will wissen, woher der Hass der Familie kam, die den eigenen Sohn bei den Behörden verraten hatte. Wieso muss Rahman hier stehen? Wenn Präsident Karsai dem Mittelalter nicht abschwört, so ist er doch auch ein Fundamentalist.«

Afghanistans Präsident Hamid Karsai hat 2002 in einer Grundsatzrede gesagt: »Gerechtigkeit ist für den Moment ein Luxus. Wir dürfen den Frieden dafür nicht aufs Spiel setzen.« Das ist der Kern des neuen »Realismus«: Afghanen müssen mit den Kriegsherren leben und sie einbinden, sonst droht wieder Krieg. Wohl auch deshalb hat Karsai im Jahr 2002 Schinwari in seinem Amt als Oberster Richter bestätigt – zur Überraschung vieler. Denn Karsai – vom Westen gestützt – steht für eine aufgeklärte Position. Aber Schinwari ist eben ein Mann des Schlächters Sayyaf, und auch der musste bei der Verteilung der Posten zufrieden gestellt werden.

Die Folgen für die afghanische Justiz sind verheerend. Und so ist auch der Fall Rahman aus politischen Gründen zu einem Casus geworden, nicht aus juristischen. Nach Einschätzung internationaler Beobachter vor Ort sollte er dazu dienen, die säkularen Kräfte in Afghanistan zu schwächen.

In Afghanistan mobilisiert Religion die Massen. Als im Jahr 2005 die Nachricht verbreitet wurde, dass in dem US–Gefangenenlager Guantánamo ein Koran in die Toilette geworfen worden sei, gab es in Afghanistan die ersten Proteste, mit mehr als 17 Toten. Auch die ersten Toten anlässlich des Streits um die dänischen Mohammed–Karikaturen waren in Afghanistan zu beklagen.

Und jetzt der Fall Rahman – eine weitere Etappe der fortschreitenden Entfremdung zwischen Afghanistan und dem Westen. Eine italienische Diplomatin, die mit dem Aufbau der Justizbehörden beschäftigt ist, sagt: »Zum einen gelten Menschenrechte, zum anderen gilt die Scharia. Sie sieht jedoch die Todesstrafe für den Abfall von Allah vor«, und das müsse man hinnehmen – vorerst zumindest. Heißt das, man muss akzeptieren, dass Menschen aus religiösen Gründen mit dem Tode bedroht werden? Immerhin schreibt die neue afghanische Verfassung auch die Religionsfreiheit fest. Die Diplomatin sagt: »Es gab in Afghanistan vor den Taliban keinen einzigen Fall der Verurteilung wegen Apostasie. Vor dem islamistischen Wahnsinn hatte der Islam hier eine tolerante Geschichte.« Afghanistan brauche Zeit, seine Identität wiederzufinden.

Die Geschichte von Abdul Rahman, sagt der afghanische Journalist Samandar aus Hamburg-Schnelsen, »ist auch die Geschichte der Despotie, die unser Land, unsere Familien und unsere Justiz prägt. In meiner Heimat wurden Intellektuelle jahrzehntelang vor Kanonen gestellt und abgeschlachtet. Andersdenkende wurden mit heißem Öl übergossen oder so lange in Käfige gesperrt, bis nur noch ihre Skelette dalagen. So war das.« Und deshalb verließen viele das Land.

Die Geschichte Abdul Rahmans, die Baqi Samandar rekonstruierte, beginnt Ende der siebziger Jahre in Afghanistan. Abdul Rahman sei zu jener Zeit ein »gläubiger Muslim« gewesen, sagt Samandar. Als die Sowjets Rahmans Dorf in einen Friedhof verwandelten, war er gerade 17 Jahre alt. In den Flüssen, so soll Rahman Hamburger Freunden später erzählt haben, trieben Leichen. Noch bei den Spaziergängen an der Hamburger Alster, sagt Samandar, hätten ihn diese Bilder wieder eingeholt.

Er sah reiche Mullahs im Jeep und begann, am Islam zu zweifeln

Der Journalist erzählt: Im Jahr 1990 flüchtet Rahman in Richtung Pakistan – er wird einer von Millionen Flüchtlingen. In den Lagern sieht er Jugendliche, die das so genannte Puder, Heroin, nehmen. Abdul Rahman, erzählt Samandar, bettelte und er beobachtete afghanische Mädchen, die als Prostituierte arbeiten mussten. Vor allem aber sah er Mullahs in Jeeps, die ganz anders, viel wohlhabender lebten als all die Flüchtlinge. Abdul Rahman habe in jener Zeit Kontakt zu westlichen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aufgenommen, sagt Samandar. Die Westler suchten Köche, Fahrer, Dolmetscher – und sie bezahlten nicht nur gut, sie boten auch ein wenig Schutz. Abdul Rahman heuerte bei einer christlichen NGO an. Und er habe sich taufen lassen, in einem Fluss bei Peschawar. Danach habe er »in Angst und Freude« gelebt. Seine Familie sollte vom christlichen Leben nichts erfahren.

Abdul Rahman kommt – mit Unterstützung einer Missionsgruppe – nach Hamburg. Er soll hier zunächst in einem Wohncontainer, dann in einem Lager gelebt haben. Er besuchte regelmäßig afghanisch-christliche Kirchen, so genannte Freichristliche Gemeinden, die sich vor allem um Asylbewerber kümmern und diese taufen. Die Christen dort, so hält auch ein Bericht des Bundesamtes für Migration fest, bieten den Flüchtlingen so genannte Taufakten und übernatürliche Jüngerschaften an, um sie vor Abschiebungen zu schützen.

Abdul Rahman, so erzählten es Freunde, die ihn in Hamburg begleiteten, sei nach Hamburg gekommen, weil er hörte, dass es eine »christliche Stadt« und hier Religion »Privatsache« sei. Doch er kommt auch in Hamburg nicht zur Ruhe, leidet an Schwermut, wird eingeholt von den Kriegserlebnissen seiner Jugend. »Er hörte die Kanonen, das Schreien der Kinder«, weiß Samandar zu berichten.

Rahman, erzählt der Journalist, versinkt in seiner neuen Religion. Zu seinen Freunden sagt er: »Eines Tages kommt Jesus, und er wird diese Grausamkeit beseitigen.« Abdul Rahman habe sich als »Christ ohne Zuhause« gefühlt. Er habe an Magenbeschwerden gelitten, sei unruhig und depressiv gewesen. Er habe schlicht »Sehnsucht nach Afghanistan« gehabt.

DIE ZEIT 30.03.2006 Nr.14

14/2006