Presserecht in Afghanistan
Haftstrafe wegen Blasphemie
VON MARTIN GERNER, Frankfurter Rundschau, Mitwoc, 2 November
Wenn westliche Journalisten in Krisen- und Kriegsgebieten entführt oder
verhaftet werden, mobilisiert das schnell die mediale Öffentlichkeit. Politiker
und Regierende setzen Krisenstäbe ein, denn es wird als Angriff auf "unsere"
Presse und Freiheit verstanden.
Anders liegt der Fall, wenn es um Länder geht, die wie Afghanistan diese
Freiheiten nicht haben. Das öffentliche Interesse an dem Land nimmt immer mehr
ab. Jetzt ist am Hindukusch erstmals seit Bestehen des neuen Mediengesetzes ein
bekannter Journalist zu zwei Jahren Haft wegen Blasphemie verurteilt worden. Die
deutschen Medien reagieren darauf mit Schweigen. Dabei handelt es sich um ein
Präzedenzfall in mehrfacher Hinsicht.
Ali Mohakik Nasab, Herausgeber der afghanischen Frauenzeitschrift Hakuk-i-San
("Frauenrechte") hat in seiner Zeitschrift geschrieben, dass Apostasie, also
Abkehr vom Islam, kein Verbrechen sei, welches mit dem Tod bestraft werden
sollte. Einflussreiche Konservative im Rat der Ulama, der höchsten geistlichen
Instanz, gaben daraufhin Anweisung an den obersten Gerichtshof in Kabul, der
Nasab im Eilverfahren veurteilte. Dabei wurde kurzerhand das Recht außer Kraft
gesetzt.
Nach dem geltenden Verfahren muss zunächst eine Kommission unabhängiger
Journalisten, Menschenrechtler, Wissenschaftler und Geistlicher eine Empfehlung
aussprechen. Mohakik Nasab dagegen wurde am 1. Oktober von der Straße weg
verhaftet. "Eine Art Kidnapping", sagte ein Kommentator, "nicht mal die Polizei
war richtig informiert." Der Veruteilte wurde in Ketten und Handschellen zur
Anklagebank geführt, sein Kopf war glattrasiert. "Ich fürchte um sein Leben",
sagt ein Freund nach den ersten Hafteindrücken.
Diese Bilder wurden im afghanischen Fernsehen gezeigt. Präsident Hamid Karsai
ordnete daraufhin umgehend die Freilassung des Inhaftierten an. Anders als vor
zwei Jahren, als zwei Journalisten unter ähnlichem Vorwand verhaftet worden
waren, scheiterte Karsais Intervention aber diesmal. Nichts verdeutlicht besser,
wie zerbrechlich das neue Verfassungsgut Presse- und Meinungsfreiheit vier Jahre
nach dem Fall der Taliban in der Realität ist. Im Fall Nasab zeigt sich der
politische Kampf radikaler gegen gemäßtigte Schiiten.
Am Problematischsten aber ist, dass es für Blasphemie keine Kriterien gibt.
Vieles ist der Interpretation überlassen. Konservative Geistliche und Mullahs
hatten jüngst den privaten Fernsehsender Tolo TV scharf angriffen, weil
dort Moderatorinnen in engen Kleidern auftreten, die sich an Vorbildern
westlicher TV-Shows orientieren. Der Rat der Ulama denkt seitdem über ein
eigenes Fernsehen nach. Für Robert Kluyver, vom Open Society Institute in Kabul,
ist der Fall Nasab ein beunruhigender Präzedenzfall. "Es fehlen gesetzliche
Vorschriften in Afghanistan und deren Befolgung. Sollte Nasab frei kommen, gibt
es keinerlei Gewähr, dass sich ein solcher Fall nicht wiederholt."
Rahimullah Samander, von der Vereinigung unabhängiger Journalisten sagt: "Wir
können immer noch nicht frei über Themen mit Islam-Kontext schreiben und über
Religion. Das muss sich ändern." Ansonsten befürchte er mehr Festnahmen unter
Afghanistans Journalisten und mehr Selbstzensur.