Background
von Said Musa Samimy (DW Afghanistan)
Rechtsunsicherheit und archaische Mentalitäten - Steinigung einer Frau zeigt langen Weg Afghanistans in die Moderne auf (O-Ton Paschtu, Dari)
-------------------------------------------------------------------
O-Ton über Tel: 4190 oder in der AWS (Audio O-Töne, Sendefach O-Ton)
-------------------------------------------------------------------
Anmoderation:
Archaische Vorstellungen von Familienehre sind in der islamischen Gesellschaft Afghanistans weiterhin stark verwurzelt. Eine Frau, die sich aus welchen Gründen auch immer, allein, ohne Ehemann, in der Gesellschaft bewegt, ist jederzeit von Ächtung, vor allem durch die eigenen Familienmitglieder, bedroht. Das gilt natürlich vor allem, wenn sexuelle Kontakte im Spiel sind, übrigens ganz egal, ob die Frau vergewaltigt wurde - sie ist auf jeden Fall untragbar geworden und muss bestraft werden. Auf besonders krasse Weise manifestierten sich solche Ehrvorstellungen vor kurzem in der nordöstlichen Provinz Badachschan, weit von der Hauptstadt Kabul entfernt. Dort wurde eine 29jährige Frau wegen angeblichen Ehebruchs auf Gerichtsbeschluss zu Tode gesteinigt, der erste - anderen Quellen zufolge der zweite - derartige Fall seit dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001. Informationen von Said Musa Samimy:
Waren zur Zeit der Taliban-Herrschaft die afghanische Frauen weitgehend rechtlos und männlicher Willkür ausgesetzt, so hofften sie im neuen Afghanistan auf gesellschaftliche und private Gleichberechtigung. Allerdings ist klar, dass sie im Streben nach persönlicher Entfaltung und nach Befreiung aus tief verwurzelten Strukturen der Gewalt einen langen und mühsamen Weg vor sich haben. Afghanistan ist immer noch eine streng patriarchalische Gesellschaft, in der Frauen der Willkür von Männern und gesellschaftlichen Traditionen unterworfen sind. Das darf aber keineswegs dahin interpretiert werden, dass afghanische Frauen diese archaischen Strukturen der Unterdrückung als von Gott gewollt und damit als unabänderlich betrachteten.
Bei der verfassunggebenden Loja Dschirga Ende 2003 haben afghanische Frauen für die Verankerung ihrer Rechte in der Verfassung sehr engagiert und couragiert gekämpft, mit Erfolg: In Artikel 22 der Verfassung wird die Gleichberechtigung der Frauen festgeschrieben. Die Problematik besteht aber darin, dass die neue Verfassung des Landes zum Teil widersprüchlich und zum Teil ambivalent formuliert ist. Selbst die Grundsatzfrage, ob das Land künftig demokratisch oder theokratisch regiert werden soll, ist nicht eindeutig geregelt. Trotz ausdrücklicher Erwähnung der demokratischen Grundsätze wird in der Verfassung explizit darauf hingewiesen, dass kein Gesetz gegen die Vorschriften des Islam verstoßen darf.
Hangama Anwari, stellvertretende Vorsitzende der unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans, fordert, angesichts dieser Situation dafür zu sorgen, dass Gerichte in entlegenen Gebieten die Scharia, also den islamischen Rechtskodex, nicht willkürlich im Sinne der Unterdrückung der Frauen instrumentalisieren.
1. O-Ton Anwari, in Dari:
"Es muss festgehalten werden, dass die Steinigung im Islam ein sehr akutes und heikles Problem darstellt. Auf jeden Fall ist nicht erlaubt, dass jeder auf die Scharia Bezug nehmen und urteilen darf. Im Falle des Urteils einer Steinigung müssen bestimmte strenge Kriterien erfüllt werden. Meiner Ansicht nach ist die Erfüllung dieser Kriterien beinahe unmöglich."
Zu diesen Kriterien gehört laut Anwari unter anderem, dass ein Steinigungsurteil nur dann - im Sinne der Scharia - gültig ist, wenn vier Augenzeugen übereinstimmend den Ort und den Akt des unehelichen Geschlechtsverkehr persönlich bezeugen. Es deute jedoch alles darauf hin, dass dies im Fall von Frau Amina keineswegs der Fall war. Anwari fügt hinzu:
2. O-Ton Anwari, in Dari:
"In der Verfassung des Landes ist Steinigung nicht vorgesehen. Im übrigen darf kein lokales Gericht, weder auf Bezirks- noch auf Provinzebene, ein Steinigungsurteil fällen".
Schokria Baraksai, Herausgeberin der Wochenzeitschrift "Aine" (Spiegel), geht einen Schritt weiter:
3. O-Ton Baraksai, in Dari:
"Hinrichtung und damit Steinigung ist eigentlich in der Verfassung des Landes verboten."
Allerdings ist die Todesstrafe als Strafmaß in der Verfassung als Möglichkeit erwähnt, sie muss vor Vollstreckung aber vom Staatspräsidenten bestätigt werden. Wie dem auch sei, die Publizistin Barksai sieht jetzt mehr als je zuvor die Notwendigkeit für die afghanischen Frauen, noch stärker als in der Vergangenheit ihre Stimmen zu erheben und sich für ihre Rechte einzusetzen.
Said Amin Mudsched, Mitglied der afghanischen Akademie in Kabul, sieht in dem aktuellen Steinigungsurteil einen Willkürakt von lokalen Einflussreichen mit dem Ziel, die Zentralregierung zu diffamieren.
4. O-Ton Mudschahed, in Paschtu:
"Das sind Warlords, die bestrebt sind, der Zentralregierung Schwierigkeiten zu bereiten. Mit solch einem Verstoß gegen die Menschrechte wollen sie die Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft zur Hilfe für Afghanistan schwächen."
Amnesty International hat die Steinigung von Amina in Afghanistan scharf kritisiert und als Skandal bezeichnet. Die Regierung habe die Pflicht, Frauen vor Gewalt zu schützen, erklärte die Menschenrechtsorganisation in London und Berlin. Religion und Brauchtum dürften nicht als Entschuldigung für die Verletzung grundlegender Frauenrechte herhalten. Fazlul Wagab, Mitglied des afghanischen Obersten Gerichtes, hat versprochen, den Fall zu untersuchen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen.
<00712639>
E N D E
Background
von Said Musa Samimy (DW Afghanisch)
Warlords bauen mit am afghanischen Frieden
- Verarbeitung der Kriegsverbrechen ist eine heikle und komplizierte Frage -
Vorschlag zur Anmoderation:
In Afghanistan keimt die Hoffnung auf - Hoffnung auf eine friedliche und demokratische Zukunft. Dies ist allerdings unvorstellbar ohne das Mitwirken der so genannten "Warlords". Ihre Einbindung erweist sich als vorrangige Aufgabe für Präsident Hamid Karsai. Ein Background von Said Musa Samimy.
Afghanistan - das Land am Hindukusch - befindet sich trotz knapper Ressourcen im Übergang vom "Zerstörungswahn" der Kriegszeiten zu Wiederaufbau und Friedenseuphorie. Darüber hinaus hat die Verabschiedung der neuen Verfassung des Landes, trotz aller Widersprüche, die Grundvoraussetzung für die Schaffung ziviler Institutionen geschaffen. Es sind inzwischen eine Reihe demokratischer Parteien entstanden.
Bewaffnete militärische Auseinandersetzungen sind nicht mehr dominierend in der Gesellschaft. Bis auf die die Überreste der Taliban-Milizen, die nicht mehr als strategische Gefahr betrachtet werden, halten sich die so genannten "Warlords" durchaus an die Spielregeln des neuen Afghanistan.
Dass die regionalen Fürsten nun sich systemkonform verhalten, ist keineswegs ein Produkt zufälliger Momente. Im Gegenteil: Es ist ein konkretes Ergebnis einer gezielten Politik der Zentralregierung unter Hamid Karsai. Der erste demokratisch gewählte Präsident des Landes unterscheidet bewusst zwischen "Warlords", die dem Regime in Kabul immer noch feindlich gesinnt sind, und den Milizenführern, die im Rahmen des politischen Konsens in ihrem eigenen Machtbereich für die Stabilisierung der Verhältnisse gesorgt haben.
Neben Ismail Khan, dem ehemaligen Emir des Westen Afghanistans, ist Anfang März auch der Vier-Sterne-General Abdul Raschid Dostum, der usbekische Milizenführer im Norden, mit einem lukrativen Posten bei der Zentralregierung zur aktiven Zusammenarbeit gewonnen worden. In der Tat besteht eine der Errungenschaften der afghanischen Regierung darin, alle Kräfte des Landes, von den Theokraten über Ethnokraten bis hin zu Demokraten, in den Friedensprozess eingebunden zu haben.
Die Berufung des 49-jährigen Dostum zum Stabschef des Oberkommandos der afghanischen Streitkräfte z. B. hat keineswegs nur einen symbolischen Wert. Der Überlebenskünstler Dostum hat bei der Präsidentschaftswahl im Oktober 2004 etwa 10 Prozent der abgegebenen Stimmen - vor allem von afghanischen Usbeken im Norden des Landes - gewonnen. Im Vielvölkerstaat Afghanistan wird diese Ernennung als politische Partizipation der Usbeken bei der politischen Konstellation des Landes betrachtet.
Umstritten ist jedoch der politisch militärische Werdegang von Dostum. Ihm wird eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Wahr ist auf jeden Fall, dass eine erforderliche und angemessene Verarbeitung der im Laufe des Krieges begangenen Verbrechen in der sehr stark ethnisch geprägten Gesellschaft eine heikle und damit sehr komplizierte Frage darstellt, die einfühlsam angegangen werden will. Der politische Klärungsprozess hat schon längst eingesetzt. Eine juristische Verarbeitung der Kriegsverbrechen wäre eine Herkulesaufgabe, die Afghanistan in seiner Eigenschaft als Übergangsgesellschaft kaum allein bewältigen könnte.
Ende